3.4.2023 - Hintergrundtext zur Ö1 Radioreihe "Betrifft: Geschichte" zu den Beatles (weil nicht alles Platz hatte)
“You say you want a revolution”: Die Beatles als Spiegel ihrer Zeit
2023 jährt sich das Revolutionsjahr 1968 zum 55. Mal - Frankreich 68, der Prager Frühling, die Proteste gegen den Vietnamkrieg, die Bürgerrechtsbewegung in den USA, auf der ganzen Welt ging es rund. Das war aber nur der Höhepunkt eines turbulenten Jahrzehnts. So wie Kultur immer Ausdruck ihrer Zeit ist, spiegelt sich diese Periode auch in der Musik der Beatles, bzw. konnten die Beatles in ganz besonderen Rahmenbedingungen groß werden. Die Musikindustrie war damals ganz anders als heute - aber auch die wirtschaftliche und politische Situation war eine grundlegend andere. Vor dem Hintergrund der Existenz der stalinistischen Staaten (die zwar eine geplante Wirtschaft hatten aber bei gleichzeitiger Existenz einer bürokratischen Diktatur, die diese verzerrte), kam es nach dem zweiten Weltkrieg zu einem Nachkriegsaufschwung und der Ausprägung eines Massenmarkts für Musik. Heute, nach drei Jahrzehnten Neoliberalismus, und angesichts technischer Neuerungen, die eigentlich bereits eine andere Form der Gesellschaft als den Kapitalismus verlangen, gibt kaum mehr jemand Geld für Musik aus. Gefühlt klingt die Musik des Mainstreams völlig stromlinienförmig und austauschbar. Die Musikindustrie ist seit Jahren in einer tiefen Krise - so wie der Kapitalismus mittlerweile von multiplen Krisen geplagt wird. Die Beatles scheinen hier wie Säulenheilige einer längst vergessenen Zeit.
Dieser Artikel soll keine Biographie sein, sondern ein Porträt der Bedingungen die das Phänomen Beatles überhaupt erst ermöglicht haben.
Warum Liverpool?
Warum entstand diese für ihre Zeit und die Popmusik an sich so prägende Band gerade in Liverpool? Es ist kein Zufall, dass eine Band aus Liverpool an der Spitze eines tiefen Umbruchs der Musikindustrie stand.
Liverpool war eine Hafenstadt - damals eine der wichtigsten Hafenstädte Englands. Als Hafenstadt hatte Liverpool auch eine Verbindung zu Hamburg, das in der Biographie der Beatles ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Liverpool war ursprünglich ein Umschlagplatz im Sklavenhandel, seine Geschichte ist reich an Kämpfen der Hafenarbeiter/innen und anderer Arbeiter/innen. Liverpool ist auch die Stadt, die in den 80ern mit einer Massenbewegung Thatcher in einer Zeit der Sparpolitik ein fortschrittliches Budget abringt.
In Liverpool gab es historisch eine große Gruppe an irischen Immigrant/innen. So waren die Familien von George Harrison und Paul McCartney zum Teil irisch.
Errungenschaften des Nachkriegsaufschwungs
Es gab einige Voraussetzungen, die überhaupt erst ermöglichten, dass die Beatles als Band entstehen konnten: Die Wehrpflicht wurde im November 1960 abgeschafft, was den Beatles ermöglichte nach Hamburg zu gehen und zu touren ohne auseinandergerissen zu werden. Als Teil einer Reihe von Verbesserungen im Zuge des Nachkriegsaufschwungs wurde ein freier Hochschulzugang mit Studienbeihilfen wurde eingeführt, die durch die Arbeiter/innenbewegung nach dem Krieg erkämpft wurden - gleichzeitig gab es eine sehr andere Weltlage als heute, da die Sowjetunion existierte und es Druck gab Zugeständnisse zu machen in Form von Sozialgesetzgebung. Eine Besonderheit in England waren die Art Schools, die Kunstschulen - nicht nur John Lennon und Stuart Sutcliff gingen auf eine dieser Kunstschulen, auch die Stones waren Art Students.
Die Beatles selbst waren Working Class Lads, George und Ringo haben jeweils eine Lehre gemacht, bevor sie auf Musik umsteigen, nur Paul hat das Liverpool Institute (eine Art AHS) besucht, hat dieses aber kurz vor den A-Levels (entspricht unserer Matura) abgebrochen um zu touren, und John Lennon war eben auf der Kunstschule. Die Musik war quasi frei nach dem American Dream eine Möglichkeit “der Tretmühle” zu entkommen. John Lennon hat ein paar Ferialjobs unter anderem als Bauarbeiter gemacht, was er total gehasst hat. Paul Mccartney spricht später davon, dass sie quasi bewiesen haben, dass man auch mit Working Class background aufsteigen kann. Die Durchlässigkeit der Klassengrenzen war aber damals wie heute eine Illusion für die Mehrheit der Arbeiter/innenklasse, gleich einer Karrotte vor der Nase.
In den späten 50er waren es die Seeleute, die Rocknroll, Blues und frühes Motown Zeugs mitbrachten. In Liverpool gab es daher Anfang der 60er eine sehr lebendige Musikszene, weil die Kids eben von den Matrosen immer die neueste Musik aus den USA hatten.
Hamburg Connection, Cavern und Lehrlingsstreiks
Beatles waren auch nur eine von unzähligen Bands, die nach Hamburg exportiert wurden. Der Hamburger Hafen ist ja einer der wichtigsten in Europa und gilt als “die britischste Stadt Deutschlands” aufgrund der Verbindungen zu England durch den Hafen. Die Aufenthalte in England waren eine extrem harte Schule, sie haben dort jede Nacht durchgespielt, mussten extrem schnell ein sehr großes Repertoire aufbauen, waren daher extrem gut zusammengespielt. Gleichzeitig haben sie dort Astrid Kirchherr und Klaus Voormann kennengelernt, die durch ihren Flirt mit dem französischen Existenzialismus starken Einfluss auf sie hatten (der sich oberflächlich gesehen nur in der Frisur wiederspiegelt, aber viel tiefgreifender war).
Zurück in Liverpool spielten sie sogenannte “Lunchtime Sessions” im Cavern Club und galten als “aufregende Band aus Hamburg”. Diese Lunchtime Sessions waren etwas ganz besonderes, was es bei uns eigentlich nie gegeben hat, weil sich bei uns alles Abends abspielt. Aber in den Lunchbreaks kamen die Arbeiter/innenjugendlichen, die Sekretärinnen, die Docker, die Fabrikarbeiter/innen, die Lehrlinge etc alle zu den Beatles Gigs im Cavern, wo sich die Beatles Basis erspielten. Im Cavern hat sich die gesamte Musikszene damals die Klinke in die Hand gegeben, auch die Hollies aus Manchester spielten dort.
Gleichzeitig hat sich da unter der Oberfläche noch mehr zusammengebraut: 1960 fand ein Lehrlingsstreik in Britannien (aber vor allem Liverpool, Manchester, Glasgow) von 100.000 Lehrlingen für Lohnerhöhungen und andere Verbesserungen statt, der mehr oder weniger von unten organisiert war, mit Streikkomitees und indem Aktivist/innen von Betrieb zu Betrieb gingen. 1964 gab es noch einen in Liverpool und Manchester. Das war ebenfalls Ausdruck des gestiegenen Selbstbewusstseins der Working Class Jugend in England.
Beatlemania: Streichholz auf trockenem Stroh
Der Durchbruch kam 62 mit Love me do, das war dann schon mit Ringo, Brian Epstein und George Martin, nachdem Decca sie abgelehnt hatte, sinngemäß mit dem Argument, Gitarrenbands sind nicht so der Burner im Moment.
Beatlemania, das war wie ein Streichholz auf trockenem Stroh:
Die Musikindustrie war zu diesem Zeitpunkt (frühe 60er) bissl am Sand weil sie nach Brill Building Modell agierte wo Musikverlage mit eigenen Songschreibern dominieren und die Künstler selbst Marionetten sind (es gab natürlich Ausnahmen im Motown-Bereich wie z.B. die von Lennon verehrten Arthur Alexander und Smokey Robinson die ihre eigenen Songs schrieben). Aber Buddy Holly war bei einem Flugzeugunfall gestorben, Elvis war beim Heer, die Musik war weichgespülter geworden. Dabei war Rocknroll selbst aus Blues und Country entstanden, die selbst deshalb an die Oberfläche gespült wurden, weil sie als Field Music quasi billiger waren für die Radios in Punkto Tantiemen als die teuren Jazz und Swing Sachen die den Filmstudios gehörten und die in der Krise die Tantiemen nach oben schraubten.
Dieser blassen Musikindustrie entgegen stand dass in den frühen 60ern bereits viel im Aufbrechen war - in Kuba war der Kapitalismus gestürzt worden, es gab große Angst vor einem Atomkrieg, die Bürgerrechtsbewegung war dabei sich zu entwickeln (Marsch auf Washington, Jim Crow Laws) und hatte einen Folkboom um Bob Dylan ausgelöst.
Gleichzeitig hattest du durch den Nachkriegsaufschwung erstmals eine Generation von Jugendlichen, die Geld hatten, um Platten zu kaufen. Besonders weiße Teenager wurden zu einem Massenkonsummarkt.
Die Beatlemania war in vertrackter Form ein Vorbote der sexuellen Revolution und der Frauenbewegung - die Pille wurde Anfang der 60er eingeführt, wobei erst in der zweiten Hälfte der 60er breit genutzt und in manchen Ländern erst später zugelassen wurde. Aber mit der Beatlemania hast du das erste Mal weibliche Teenager als sexuelles Subjekt und die Beatles als männliches Objekt der Begierde. Das hast du zwar beim Elvis auch schon ein bissl gehabt, aber nicht in solchem Ausmaß. D.h. die unterdrückte weibliche Sexualität der 50er hat sich in dieser Hysterie dann entladen. Bis die Pille sich durchsetzte, war das, was der John Lennon und seine Frau Cynthia machten, nämlich heiraten wegen dem Kind und dann gemeinsam unglücklich sein, sehr weit verbreitet.
Gleichzeitig lag in dem ganzen Phänomen Beatles eine gewisse Homoerotik, die vielleicht implizit mitschwang. In England war Homosexualität in den frühen 60ern immer noch verboten (das Verbot stammte von einem Gesetz aus 1885), wie Beatles Manager Brian Epstein leidvoll wusste (erst 67 wurde sie teilweise entkriminalisiert).
Die Musik der Beatles lebte also von bis dahin unterdrückten Dingen, die nun aufbrachen.
Akzeptabel und Grenzüberschreitend
Das hat folgende Auswirkungen:
Die Beatles haben den USA quasi ihre eigene Musik, also den schwarzen Rock’n’roll und R’n’B, in einer Form zurückgebracht, die gleichzeitig outrageous und unschuldig ist, akzeptabel weil weiß, aber grenzüberschreitend, weil die Grenzen verwischend - also gerade richtig für den weißen Teenie Massenkonsummarkt.
Die Beatles traten gemeinsam mit Dylan erstmals in großer Manier als Singersongwriter auf, schreiben also ihre eigenen Songs und performten sie gleichzeitig - das war ein enormer Durchbruch, Künstler/innen waren jetzt auch quasi Autor/innen und Subjekte, was sich dann später weiter entwickelt.
In Folge der Beatles kam die Schwemme der British Invasion und der Gitarrengruppen, wobei die Gruppen, die erfolgreich blieben, ja weniger jene aus Liverpool in der Schneise der Beatles waren, sondern jene die sich dann um die Stones, Pretty Things, Who, Yardbirds und andere in London formierten (die Londoner Bands waren stärker an Blues orientiert) - das war quasi der Blueprint der Rockband den es ja bis heute gibt, also zwei Gitarren, Bass, Drums. Das war quasi ein neues Geschäftsmodell für die Musikindustrie, die nun förmlich explodierte.
Künstlerische Veränderung und Vertiefung der Autorenschaft
Die Beatles haben von Beginn an wie ein Schwamm alles aufgesogen was um sie herum war - angefangen von Nachrichten über Musik ihrer Kolleg/innen, Kunst, Literatur etc. Das haben sie quasi verdaut und wieder ausgespuckt.
Bob Dylan und die Beatles haben sich sehr stark gegenseitig beeinflusst. Während der stärkste musikalische Einfluss 64-65 weiterhin Motown war, war Dylan sicher der stärkste inhaltliche Einfluss. Es gibt diese Anekdote, dass Dylan dachte, dass sie bei I wanna hold your hand "i get high" singen, dabei sangen sie "i can't hide". Dylan hat sie animiert mehr auf die Texte zu achten. Lennon und später McCartney beginnen im späten 1964 stärker introspektive Texte zu schreiben. Lennon war da in seiner sogenannten Fat Elvis Phase, wo er selbst meinte, dass er mit Depressionen zu kämpfen hatte, während er mit Frau und Kind in seiner Villa saß. Das hat sich u.a. in Songs wie Help ausgedrückt. Während John Lennon stärker aus der Ich-Perspektive geschrieben hat (und später dann experimentelles dylanartiges psychedelisches Zeug), hat Paul Mccartney stärker kurzgeschichtenartige Texte geschrieben (bestes Beispiel: Eleanor Rigby). Inhaltlich entwickelt sich das auch später noch weiter.
Es gibt auch eine Anekdote, dass Lennon und McCartney eine “flow of consciousness” Schreibsession mit Bob Dylan hatten, wo sie einen Text produzierten, der “pneumonia ceilings” heißt.
Die Künstlerische Bandbreite hat auch davon profitiert, dass sie eigentlich drei Songwriter und Sänger hatten, was natürlich langfristig ein Sprengstoff war (besonders weil George Harrison im Songwriting Team von Lennon-McCartney keinen Platz hatte und an den Rand gedrängt wurde)
Gesellschaftliche Entwicklungen als Unterfutter der Musik
Politisch ist es 65/66 weiter zu einer Zuspitzung gekommen, Widerstand gegen den Vietnamkrieg formiert sich, Bürgerrechtsbewegung in den USA…
Gleichzeitig entwickelt sich auf dem Rücken der sich zusammenbrauenden Bewegungen eine enorme Explosion der Kreativität. 1966 bewegten sich die Beatles in der Avantgarde Szene in London, hörten John Cage und Stockhausen und unterstützten die Indica Gallery von John Dunbar, wo John Lennon später Yoko Ono kennenlernte. Während sich 1965 in London ein Underground entwickelt, gibt es in den USA das erste Aufblühen von Hippie Culture in Haight Ashbury. Aber auch das ist nur die Spitze des Eisbergs. 1967 gibt du dann erste Festivals mit Monterey, einem Vorläufer von Woodstock. Davor gab es in den USA schon Love-Ins und Be-Ins als Teil der Hippie Kultur.
Gleichzeitig findet in England eine Hinwendung zu den Kulturen in den zum Teil jetzt unabhängig gewordenen Kolonien statt. In den 70ern z.B. auch Hinwendung nach Nigeria, Ginger Baker ist dorthin gezogen, Paul McCartney hat später in Lagos aufgenommen. Aber ein wichtiger Punkt ist, dass George Harrison beim Dreh von Help 1965 indische Musik entdeckt, was sich dann bei George Harrison noch stärker in Richtung spiritueller Sinnsuche erweitert. Auch das war ein Spiegel der Zeit.
Reifephase und the Beginning of The End
Die zunehmenden politischen Spannungen und Belastungen bei den Tourneen (aufgrund der schlechten Technik und dem Gekreische des Publikums konnten sie sich einfach nicht mehr hören, das muss sehr frustig gewesen sein) führen schließlich dazu, dass sie 1966 aufhören zu touren. Im August 66 findet das letzte Konzert statt. Besonders zwei Zwischenfälle waren da relevant, die Reaktion der religiösen Rechten in den USA zu John Lennons Sager dass sie "bigger than Jesus" seien (was er nicht als Wertung gemeint hat, sondern als Feststellung bezüglich ihrer Popularität). Und ein Konflikt mit dem autoritären Regime der Philippinen in Manila, wo sie Imelda Marcos, die Frau des Diktatoren Marcos, ein Treffen verweigerten.
Das bewirkt zwei Dinge: Sie haben jetzt unbegrenzt Zeit und Budget, um im Studio ein halbes Jahr lang aufzunehmen. Und sie müssen das Zeug nicht auf die Bühne bringen, dh sie können das Album instrumentieren und arrangieren wie sie wollen. Das Outcome war Sgt. Peppers, das enormen Einfluss hatte. Konzeptalben hatte es auch davor schon gegeben, aber das hier war auf einem ganz anderen Level. Sgt. Peppers hat in gewisser Weise auch einen Wechsel von Singles zu LPs eingeläutet und das Zeitalter der Konzeptalben losgetreten. Mit Sgt. Pepper wollte McCartney Pet Sounds von den Beach Boys übertreffen, das selbst bereits wieder eine Antwort auf Revolver gewesen war.
Die Beatles haben mit George Martin einen klassisch ausgebildeten Arrangeur, der für ihre Songs Orchester arrangiert. Klassische Musik wird generell auch in die Musik eingewoben, wie auch indische Musik und World Musik (das hat aber schon 65 begonnen, als George Harrison begann Sitar zu lernen).
Zur Reifephase kann man eigentlich auch Revolver schon zählen, wo sie eigentlich noch getourt haben. Tomorrow Never Knows war ein musikalisch revolutionäres experimentelles Stück, wo sie eigentlich Drum and Bass und das Sampling im Hiphop vorweg genommen haben. Die Technik des Loopings kommt aus der Experimentalmusik, wo sie sich das abgeschaut haben. Der Text wiederum ist aus dem tibetanischen Totenbuch. Sie haben überhaupt einen Approach angenommen, wo sie Dinge ausprobiert haben und dann so wie sie waren eingebaut haben. Zur musikalischen Reifephase gehören im weiteren Sinne auch das Weiße Album und Abbey Road, obwohl die beiden Alben eigentlich schon den Beginn des Endes markieren.
Diese Zerfallsphase beginnt widersprüchlicherweise eigentlich schon 1967 mit dem Tod von Brian Epstein - der sich ohne das Touren überflüssig gefühlt hat - und ohne den die Beatles ziemlich verloren sind. Sein Tod markiert eigentlich ziemlich genau das Ende des Summer of Loves. Obwohl die Beatles immer noch Meisterwerke produzieren, merkt man immer mehr, dass ihnen eigentlich der Manager fehlt, der sich selbst aber mit dem Ende der Tourneen als überflüssig empfunden hat.
Sie machen dann alle möglichen relativ richtunglose hippiesken Selbstfindungssachen, wie den Trip nach Indien, oder die Gründung von Apple, das ja eigentlich die Idee eines Indielabels ist, das kreatives ermöglichen soll, also gut gemeint, aber das natürlich ein Projekt ist, das, weil halt im Kapitalismus gefangen, völlig an den Widersprüchen des Kapitalismus zerbricht. Weil irgendwann brauchten sie dann wieder Geld, und das hat dann Streitigkeiten über die Ausrichtung - und welchen Manager sie brauchen - mit sich gebracht.
1968
1968 war politisch eine enorme Zensur. 1968 kulminieren die verschiedenen Bewegungen beinahe gleichzeitig: der Prager Frühling wo die Frage nach “echtem” demokratischen Sozialismus gestellt wird, der Generalstreik in Frankreich im Mai 68, wo die Arbeiter/innenklasse die Bühne betritt und es beinahe eine sozialistische Revolution in Europa gibt, die Tet Offensive in Vietnam und den Widerstand dagegen, Studierendenunruhen, die Ermordung von Martin Luther King und den Aufschrei dagegen, die Kulturrevolution in China mit dem Maoismus (wo ja ein Teil der Bürokratie eine Bewegung gegen den anderen Teil der Bürokratie schürt - begann aber schon 66), die Entwicklung der Black Panther (auch die bereits 66 gegründet)etc.
Politisch spiegelt sich das dann insofern wider, als die Beatles 1969 einen Versuch in Richtung “Back to the roots” in Form des Get Back Projects starten, ein Zurück zum Rock’n’roll und Blues, weg von der klassischen Musik. Aber auch inhaltlich kommt das langsam auch in den Texten zu tragen - Back in the USSR (satirische Auseinandersetzung mit dem kalten Krieg), Lady Madonna (Alleinerzieherin im Fokus), Blackbird (da gehts um die Bürgerrechtsbewegung) und natürlich Revolution, wo sich Lennon eigentlich von den Maoisten und jenen Teilen der Linken distanziert die auf individuellen Terror setzen. Aber eigentlich hat er sich nicht von der Idee von Revolution an sich distanziert, wie später in den frühen 70ern deutlich wird, wo er mit der Yoko Ono viel Politzeugs macht und mit der vierten Internationale in Kontakt ist, und wo er Imagine schreibt, das er als "Virtually the communist manifesto put to music" beschreibt.
1968 kommt auch der Film Yellow Submarine heraus, den die Beatles zwar nicht mit konzipieren, aber der sehr stark unter dem Nachhall des Prager Frühlings steht. Die Blue Meanies sollten eigentlich Red Meanies sein, laut Heinz Edelmann, der für den Film als Art Director fungiert. Man sieht im Film, wie allein das Hören von Musik mit dem Regime der Blue Meanies (also im übertragenen Sinne der stalinistische Bürokratie) schon in Konflikt kommt und zum revolutionären Akt wird. Der Film impliziert, dass politische Revolution gegen die Bürokratie hin zu echtem Sozialismus möglich gewesen wäre, und das wurde gesellschaftlich ja auch in vielen Ländern diskutiert.
Schmerzlicher Zerfallsprozess
In Get Back sieht man den schmerzlichen Zerfallsprozess der Beatles. Letztlich waren das mehrere Faktoren:
Lennon und Mccartney heiraten beide. Und zwar, zumindest im Fall von Yoko Ono, Frauen, die sich nicht mit der Rolle des Heimchen am Herd abfinden, wie noch Lennons erste Frau Cynthia. Das ist letztlich Ausdruck des gestärkten Selbstbewusstseins von Frauen im Laufe des Jahrzehnts. Es gibt kein Zurück zu 1963. Während John und Cynthia Lennon Familie gespielt haben, wenig gemeinsames hatten und dadurch genug Raum für die Band blieb, ist die Beziehung zu Yoko Ono ganz anders, intimer, auf einer künstlerischen und politischen gemeinsamen Basis stehend. Und das war mit der Einheit Lennon-McCartney - und damit der Band - nicht mehr vereinbar.
Auch der Versuch in Get Back zurück zum Live-Format zu kommen gelingt nur bedingt - beim Weißen Album haben sie begonnen, alleine Songs einzuspielen, alle instrumente selbst einzuspielen, vor allem Paul McCartney, und er hat vermutlich Blut geleckt daran, die totale künstlerische Kontrolle über seine Songs zu haben. Bei Get Back ist es viel schwieriger Instrumente zu tauschen - wenn McCartney Klavier spielt, muss irgendwer Bass spielen. Es ist natürlich viel leichter den Gitarrenpart selbst so einzuspielen, wie man das gerne möchte, als mit jemand anderen zusammenzuarbeiten.
Auch der Sprengstoff der drei Songwriter kommt hier zu tragen, erst massive Bereicherung durch die starken Persönlichkeiten, sorgt das nun zu Spannungen und vor allem George Harrison möchte nun mehr Raum für die eigenen Sachen. Das bedeutet, es hat eine gewisse Subjektwerdung, aber gleichzeitig Vereinzelung stattgefunden, was schließlich zur Trennung führte.
Die Karriere der Beatles von 1960-1970 spiegelt den Bogen des Jahrzehnts und auch des Nachkriegsaufschwungs ziemlich genau wider. Denn der hat zwar offiziell erst mit der Ölkrise 1973 geendet, aber die Profite haben bereits Ende der 60er Jahre begonnen zu sinken.
Yesterday - und heute?
Die Themen, die sich in der Musik der Beatles gespiegelt haben, sind heute, in einer Situation multipler Krisen des Kapitalismus, mehr als aktuell.
Was zwischen damals und heute steht, sind 1989 und der Zusammenbruch des Stalinismus und die Offensive des Kapitalismus in den 90ern, wo uns gesagt wurde, dass nur der Kapitalismus funktioniert und die 68er Träumer waren die gescheitert sind (das Buch von Ian McDonald "Revolution in the Head" zb spiegelt das wieder, das Buch ist 1997 geschrieben worden und McDonald sinniert die ganze Zeit, warum die Counter Culture in den 60ern nicht erfolgreich war und versucht den Grund darin zu finden, dass diese an sich vermessen war - was nicht stimmt, es gab konkrete Gründe warum sich der Neoliberalismus und die kapitalistische Offensive durchgesetzt haben). Die Sozialdemokratien sind nach rechts gerutscht und haben die Arbeiter/innenklasse im Grunde ohne Vertretung zurück gelassen. Die Nachwirkungen von 1989 fühlen wir heute immer noch, aber das beginnt sich auch langsam zu ändern. Grund genug, die Beatles und ihre Zeit wieder zu entdecken.
Die Musikindustrie ist heute in völligem Abstieg begriffen - das ist im Grunde Ausdruck der Krise, in der die gesamte Gesellschaft sich befindet. Sgt. Peppers wäre so in dieser Form gar nicht mehr möglich - die Musikindustrie braucht einen einkastelbaren Act, damit sie diesen zielgruppengerecht vermarkten kann. Da kannst du nicht ein Lied so und ein anderes Lied so gestalten wie die Beatles das auf Sgt. Peppers gemacht haben. Heute gibt kaum jemand mehr Geld aus für Musikaufnahmen, außer der Generation, die mit den Beatles aufgewachsen ist. Es gibt Widerspruch zwischen Demokratisierung der Musikproduktion - kann eigentlich jeder aufnehmen - und sinkender Profitabilität. CDs verkaufen sich aufgrund Streaming nicht mehr, dann gab es einen Shift zum Live Markt, aber der ist seit der Pandemie auch hin (Locations sind Pleite gegangen, dh es gibt heute weniger Auftrittsmöglichkeiten). Es gibt zwar ein bissl ein Vinylrevival aber das ist ein Elitenprojekt.
Das führt dazu dass die Musikindustrie nur noch recyclet und kaum noch Möglichkeiten zu profitabler Verwertung hat. Darum auch versucht sie auch alles kommerziell auszuschlachten. Aber dem Mainstream stehen Selbstorganisation und Subkulturen gegenüber - wenn damit auch kein Geld zu machen ist. Aber der Mensch hört nicht auf Musik zu machen. Kreativität “on the ground” gibt es nach wie vor. Aber es ist mehr denn je Zeit die Musik vom Warencharakter und von der Entfremdung von ihr selbst zu befreien - durch einen Bruch mit dem Kapitalismus. Dazu braucht es die Entwicklung von neuen Arbeiter/innenparteien und revolutionärer Massenparteien.
Die Welt heute ist in Aufruhr aufgrund der multiplen Krisen des Kapitalismus. Es gibt Streikwellen in Britannien, Deutschland, Frankreich, Massenbewegungen in Israel und Sri Lanka. Es gibt neue Generationen, die nicht nur zum Teil die Beatles entdecken (z.B. eine internationale Community of Tiktok, das sind Teenies und 20jährige), sondern auch nach Ideen suchen, weil sich der Kapitalismus so in der Sackgasse befindet. Bei Livestreams auf Tiktok zu den Demonstrationen gegen Macrons Pensionsreform haben Jugendliche "revolution" und "mai 68" kommentiert. Es ist mehr als legitim, auf der Suche nach Antworten einen Blick zurück in die 60er werfen. Und Imagine so hören, wie es von John Lennon gemeint war: Als Vision einer klassenlosen Gesellschaft.
Tipps:
-> “Inspire Beatles” Playlist auf Spotify (Eine Playlist mit den verschiedenen Einflüssen von denen die Beatles "zitiert" haben)
Quellen:
Mark Lewison: The Beatles - Tune In
Peter Taaffe: Liverpool - A City that dared to fight
Ernst Hofacker: Von Edison bis Elvis. Wie die Popmusik erfunden wurde.
Barry Miles: Paul Mccartney - Many years from now
Edgar Cruz: Extraordinary Plagiarists
Ian McDonald: Revolution in the Head
“You say you want a revolution”: Die Beatles als Spiegel ihrer Zeit
2023 jährt sich das Revolutionsjahr 1968 zum 55. Mal - Frankreich 68, der Prager Frühling, die Proteste gegen den Vietnamkrieg, die Bürgerrechtsbewegung in den USA, auf der ganzen Welt ging es rund. Das war aber nur der Höhepunkt eines turbulenten Jahrzehnts. So wie Kultur immer Ausdruck ihrer Zeit ist, spiegelt sich diese Periode auch in der Musik der Beatles, bzw. konnten die Beatles in ganz besonderen Rahmenbedingungen groß werden. Die Musikindustrie war damals ganz anders als heute - aber auch die wirtschaftliche und politische Situation war eine grundlegend andere. Vor dem Hintergrund der Existenz der stalinistischen Staaten (die zwar eine geplante Wirtschaft hatten aber bei gleichzeitiger Existenz einer bürokratischen Diktatur, die diese verzerrte), kam es nach dem zweiten Weltkrieg zu einem Nachkriegsaufschwung und der Ausprägung eines Massenmarkts für Musik. Heute, nach drei Jahrzehnten Neoliberalismus, und angesichts technischer Neuerungen, die eigentlich bereits eine andere Form der Gesellschaft als den Kapitalismus verlangen, gibt kaum mehr jemand Geld für Musik aus. Gefühlt klingt die Musik des Mainstreams völlig stromlinienförmig und austauschbar. Die Musikindustrie ist seit Jahren in einer tiefen Krise - so wie der Kapitalismus mittlerweile von multiplen Krisen geplagt wird. Die Beatles scheinen hier wie Säulenheilige einer längst vergessenen Zeit.
Dieser Artikel soll keine Biographie sein, sondern ein Porträt der Bedingungen die das Phänomen Beatles überhaupt erst ermöglicht haben.
Warum Liverpool?
Warum entstand diese für ihre Zeit und die Popmusik an sich so prägende Band gerade in Liverpool? Es ist kein Zufall, dass eine Band aus Liverpool an der Spitze eines tiefen Umbruchs der Musikindustrie stand.
Liverpool war eine Hafenstadt - damals eine der wichtigsten Hafenstädte Englands. Als Hafenstadt hatte Liverpool auch eine Verbindung zu Hamburg, das in der Biographie der Beatles ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Liverpool war ursprünglich ein Umschlagplatz im Sklavenhandel, seine Geschichte ist reich an Kämpfen der Hafenarbeiter/innen und anderer Arbeiter/innen. Liverpool ist auch die Stadt, die in den 80ern mit einer Massenbewegung Thatcher in einer Zeit der Sparpolitik ein fortschrittliches Budget abringt.
In Liverpool gab es historisch eine große Gruppe an irischen Immigrant/innen. So waren die Familien von George Harrison und Paul McCartney zum Teil irisch.
Errungenschaften des Nachkriegsaufschwungs
Es gab einige Voraussetzungen, die überhaupt erst ermöglichten, dass die Beatles als Band entstehen konnten: Die Wehrpflicht wurde im November 1960 abgeschafft, was den Beatles ermöglichte nach Hamburg zu gehen und zu touren ohne auseinandergerissen zu werden. Als Teil einer Reihe von Verbesserungen im Zuge des Nachkriegsaufschwungs wurde ein freier Hochschulzugang mit Studienbeihilfen wurde eingeführt, die durch die Arbeiter/innenbewegung nach dem Krieg erkämpft wurden - gleichzeitig gab es eine sehr andere Weltlage als heute, da die Sowjetunion existierte und es Druck gab Zugeständnisse zu machen in Form von Sozialgesetzgebung. Eine Besonderheit in England waren die Art Schools, die Kunstschulen - nicht nur John Lennon und Stuart Sutcliff gingen auf eine dieser Kunstschulen, auch die Stones waren Art Students.
Die Beatles selbst waren Working Class Lads, George und Ringo haben jeweils eine Lehre gemacht, bevor sie auf Musik umsteigen, nur Paul hat das Liverpool Institute (eine Art AHS) besucht, hat dieses aber kurz vor den A-Levels (entspricht unserer Matura) abgebrochen um zu touren, und John Lennon war eben auf der Kunstschule. Die Musik war quasi frei nach dem American Dream eine Möglichkeit “der Tretmühle” zu entkommen. John Lennon hat ein paar Ferialjobs unter anderem als Bauarbeiter gemacht, was er total gehasst hat. Paul Mccartney spricht später davon, dass sie quasi bewiesen haben, dass man auch mit Working Class background aufsteigen kann. Die Durchlässigkeit der Klassengrenzen war aber damals wie heute eine Illusion für die Mehrheit der Arbeiter/innenklasse, gleich einer Karrotte vor der Nase.
In den späten 50er waren es die Seeleute, die Rocknroll, Blues und frühes Motown Zeugs mitbrachten. In Liverpool gab es daher Anfang der 60er eine sehr lebendige Musikszene, weil die Kids eben von den Matrosen immer die neueste Musik aus den USA hatten.
Hamburg Connection, Cavern und Lehrlingsstreiks
Beatles waren auch nur eine von unzähligen Bands, die nach Hamburg exportiert wurden. Der Hamburger Hafen ist ja einer der wichtigsten in Europa und gilt als “die britischste Stadt Deutschlands” aufgrund der Verbindungen zu England durch den Hafen. Die Aufenthalte in England waren eine extrem harte Schule, sie haben dort jede Nacht durchgespielt, mussten extrem schnell ein sehr großes Repertoire aufbauen, waren daher extrem gut zusammengespielt. Gleichzeitig haben sie dort Astrid Kirchherr und Klaus Voormann kennengelernt, die durch ihren Flirt mit dem französischen Existenzialismus starken Einfluss auf sie hatten (der sich oberflächlich gesehen nur in der Frisur wiederspiegelt, aber viel tiefgreifender war).
Zurück in Liverpool spielten sie sogenannte “Lunchtime Sessions” im Cavern Club und galten als “aufregende Band aus Hamburg”. Diese Lunchtime Sessions waren etwas ganz besonderes, was es bei uns eigentlich nie gegeben hat, weil sich bei uns alles Abends abspielt. Aber in den Lunchbreaks kamen die Arbeiter/innenjugendlichen, die Sekretärinnen, die Docker, die Fabrikarbeiter/innen, die Lehrlinge etc alle zu den Beatles Gigs im Cavern, wo sich die Beatles Basis erspielten. Im Cavern hat sich die gesamte Musikszene damals die Klinke in die Hand gegeben, auch die Hollies aus Manchester spielten dort.
Gleichzeitig hat sich da unter der Oberfläche noch mehr zusammengebraut: 1960 fand ein Lehrlingsstreik in Britannien (aber vor allem Liverpool, Manchester, Glasgow) von 100.000 Lehrlingen für Lohnerhöhungen und andere Verbesserungen statt, der mehr oder weniger von unten organisiert war, mit Streikkomitees und indem Aktivist/innen von Betrieb zu Betrieb gingen. 1964 gab es noch einen in Liverpool und Manchester. Das war ebenfalls Ausdruck des gestiegenen Selbstbewusstseins der Working Class Jugend in England.
Beatlemania: Streichholz auf trockenem Stroh
Der Durchbruch kam 62 mit Love me do, das war dann schon mit Ringo, Brian Epstein und George Martin, nachdem Decca sie abgelehnt hatte, sinngemäß mit dem Argument, Gitarrenbands sind nicht so der Burner im Moment.
Beatlemania, das war wie ein Streichholz auf trockenem Stroh:
Die Musikindustrie war zu diesem Zeitpunkt (frühe 60er) bissl am Sand weil sie nach Brill Building Modell agierte wo Musikverlage mit eigenen Songschreibern dominieren und die Künstler selbst Marionetten sind (es gab natürlich Ausnahmen im Motown-Bereich wie z.B. die von Lennon verehrten Arthur Alexander und Smokey Robinson die ihre eigenen Songs schrieben). Aber Buddy Holly war bei einem Flugzeugunfall gestorben, Elvis war beim Heer, die Musik war weichgespülter geworden. Dabei war Rocknroll selbst aus Blues und Country entstanden, die selbst deshalb an die Oberfläche gespült wurden, weil sie als Field Music quasi billiger waren für die Radios in Punkto Tantiemen als die teuren Jazz und Swing Sachen die den Filmstudios gehörten und die in der Krise die Tantiemen nach oben schraubten.
Dieser blassen Musikindustrie entgegen stand dass in den frühen 60ern bereits viel im Aufbrechen war - in Kuba war der Kapitalismus gestürzt worden, es gab große Angst vor einem Atomkrieg, die Bürgerrechtsbewegung war dabei sich zu entwickeln (Marsch auf Washington, Jim Crow Laws) und hatte einen Folkboom um Bob Dylan ausgelöst.
Gleichzeitig hattest du durch den Nachkriegsaufschwung erstmals eine Generation von Jugendlichen, die Geld hatten, um Platten zu kaufen. Besonders weiße Teenager wurden zu einem Massenkonsummarkt.
Die Beatlemania war in vertrackter Form ein Vorbote der sexuellen Revolution und der Frauenbewegung - die Pille wurde Anfang der 60er eingeführt, wobei erst in der zweiten Hälfte der 60er breit genutzt und in manchen Ländern erst später zugelassen wurde. Aber mit der Beatlemania hast du das erste Mal weibliche Teenager als sexuelles Subjekt und die Beatles als männliches Objekt der Begierde. Das hast du zwar beim Elvis auch schon ein bissl gehabt, aber nicht in solchem Ausmaß. D.h. die unterdrückte weibliche Sexualität der 50er hat sich in dieser Hysterie dann entladen. Bis die Pille sich durchsetzte, war das, was der John Lennon und seine Frau Cynthia machten, nämlich heiraten wegen dem Kind und dann gemeinsam unglücklich sein, sehr weit verbreitet.
Gleichzeitig lag in dem ganzen Phänomen Beatles eine gewisse Homoerotik, die vielleicht implizit mitschwang. In England war Homosexualität in den frühen 60ern immer noch verboten (das Verbot stammte von einem Gesetz aus 1885), wie Beatles Manager Brian Epstein leidvoll wusste (erst 67 wurde sie teilweise entkriminalisiert).
Die Musik der Beatles lebte also von bis dahin unterdrückten Dingen, die nun aufbrachen.
Akzeptabel und Grenzüberschreitend
Das hat folgende Auswirkungen:
Die Beatles haben den USA quasi ihre eigene Musik, also den schwarzen Rock’n’roll und R’n’B, in einer Form zurückgebracht, die gleichzeitig outrageous und unschuldig ist, akzeptabel weil weiß, aber grenzüberschreitend, weil die Grenzen verwischend - also gerade richtig für den weißen Teenie Massenkonsummarkt.
Die Beatles traten gemeinsam mit Dylan erstmals in großer Manier als Singersongwriter auf, schreiben also ihre eigenen Songs und performten sie gleichzeitig - das war ein enormer Durchbruch, Künstler/innen waren jetzt auch quasi Autor/innen und Subjekte, was sich dann später weiter entwickelt.
In Folge der Beatles kam die Schwemme der British Invasion und der Gitarrengruppen, wobei die Gruppen, die erfolgreich blieben, ja weniger jene aus Liverpool in der Schneise der Beatles waren, sondern jene die sich dann um die Stones, Pretty Things, Who, Yardbirds und andere in London formierten (die Londoner Bands waren stärker an Blues orientiert) - das war quasi der Blueprint der Rockband den es ja bis heute gibt, also zwei Gitarren, Bass, Drums. Das war quasi ein neues Geschäftsmodell für die Musikindustrie, die nun förmlich explodierte.
Künstlerische Veränderung und Vertiefung der Autorenschaft
Die Beatles haben von Beginn an wie ein Schwamm alles aufgesogen was um sie herum war - angefangen von Nachrichten über Musik ihrer Kolleg/innen, Kunst, Literatur etc. Das haben sie quasi verdaut und wieder ausgespuckt.
Bob Dylan und die Beatles haben sich sehr stark gegenseitig beeinflusst. Während der stärkste musikalische Einfluss 64-65 weiterhin Motown war, war Dylan sicher der stärkste inhaltliche Einfluss. Es gibt diese Anekdote, dass Dylan dachte, dass sie bei I wanna hold your hand "i get high" singen, dabei sangen sie "i can't hide". Dylan hat sie animiert mehr auf die Texte zu achten. Lennon und später McCartney beginnen im späten 1964 stärker introspektive Texte zu schreiben. Lennon war da in seiner sogenannten Fat Elvis Phase, wo er selbst meinte, dass er mit Depressionen zu kämpfen hatte, während er mit Frau und Kind in seiner Villa saß. Das hat sich u.a. in Songs wie Help ausgedrückt. Während John Lennon stärker aus der Ich-Perspektive geschrieben hat (und später dann experimentelles dylanartiges psychedelisches Zeug), hat Paul Mccartney stärker kurzgeschichtenartige Texte geschrieben (bestes Beispiel: Eleanor Rigby). Inhaltlich entwickelt sich das auch später noch weiter.
Es gibt auch eine Anekdote, dass Lennon und McCartney eine “flow of consciousness” Schreibsession mit Bob Dylan hatten, wo sie einen Text produzierten, der “pneumonia ceilings” heißt.
Die Künstlerische Bandbreite hat auch davon profitiert, dass sie eigentlich drei Songwriter und Sänger hatten, was natürlich langfristig ein Sprengstoff war (besonders weil George Harrison im Songwriting Team von Lennon-McCartney keinen Platz hatte und an den Rand gedrängt wurde)
Gesellschaftliche Entwicklungen als Unterfutter der Musik
Politisch ist es 65/66 weiter zu einer Zuspitzung gekommen, Widerstand gegen den Vietnamkrieg formiert sich, Bürgerrechtsbewegung in den USA…
Gleichzeitig entwickelt sich auf dem Rücken der sich zusammenbrauenden Bewegungen eine enorme Explosion der Kreativität. 1966 bewegten sich die Beatles in der Avantgarde Szene in London, hörten John Cage und Stockhausen und unterstützten die Indica Gallery von John Dunbar, wo John Lennon später Yoko Ono kennenlernte. Während sich 1965 in London ein Underground entwickelt, gibt es in den USA das erste Aufblühen von Hippie Culture in Haight Ashbury. Aber auch das ist nur die Spitze des Eisbergs. 1967 gibt du dann erste Festivals mit Monterey, einem Vorläufer von Woodstock. Davor gab es in den USA schon Love-Ins und Be-Ins als Teil der Hippie Kultur.
Gleichzeitig findet in England eine Hinwendung zu den Kulturen in den zum Teil jetzt unabhängig gewordenen Kolonien statt. In den 70ern z.B. auch Hinwendung nach Nigeria, Ginger Baker ist dorthin gezogen, Paul McCartney hat später in Lagos aufgenommen. Aber ein wichtiger Punkt ist, dass George Harrison beim Dreh von Help 1965 indische Musik entdeckt, was sich dann bei George Harrison noch stärker in Richtung spiritueller Sinnsuche erweitert. Auch das war ein Spiegel der Zeit.
Reifephase und the Beginning of The End
Die zunehmenden politischen Spannungen und Belastungen bei den Tourneen (aufgrund der schlechten Technik und dem Gekreische des Publikums konnten sie sich einfach nicht mehr hören, das muss sehr frustig gewesen sein) führen schließlich dazu, dass sie 1966 aufhören zu touren. Im August 66 findet das letzte Konzert statt. Besonders zwei Zwischenfälle waren da relevant, die Reaktion der religiösen Rechten in den USA zu John Lennons Sager dass sie "bigger than Jesus" seien (was er nicht als Wertung gemeint hat, sondern als Feststellung bezüglich ihrer Popularität). Und ein Konflikt mit dem autoritären Regime der Philippinen in Manila, wo sie Imelda Marcos, die Frau des Diktatoren Marcos, ein Treffen verweigerten.
Das bewirkt zwei Dinge: Sie haben jetzt unbegrenzt Zeit und Budget, um im Studio ein halbes Jahr lang aufzunehmen. Und sie müssen das Zeug nicht auf die Bühne bringen, dh sie können das Album instrumentieren und arrangieren wie sie wollen. Das Outcome war Sgt. Peppers, das enormen Einfluss hatte. Konzeptalben hatte es auch davor schon gegeben, aber das hier war auf einem ganz anderen Level. Sgt. Peppers hat in gewisser Weise auch einen Wechsel von Singles zu LPs eingeläutet und das Zeitalter der Konzeptalben losgetreten. Mit Sgt. Pepper wollte McCartney Pet Sounds von den Beach Boys übertreffen, das selbst bereits wieder eine Antwort auf Revolver gewesen war.
Die Beatles haben mit George Martin einen klassisch ausgebildeten Arrangeur, der für ihre Songs Orchester arrangiert. Klassische Musik wird generell auch in die Musik eingewoben, wie auch indische Musik und World Musik (das hat aber schon 65 begonnen, als George Harrison begann Sitar zu lernen).
Zur Reifephase kann man eigentlich auch Revolver schon zählen, wo sie eigentlich noch getourt haben. Tomorrow Never Knows war ein musikalisch revolutionäres experimentelles Stück, wo sie eigentlich Drum and Bass und das Sampling im Hiphop vorweg genommen haben. Die Technik des Loopings kommt aus der Experimentalmusik, wo sie sich das abgeschaut haben. Der Text wiederum ist aus dem tibetanischen Totenbuch. Sie haben überhaupt einen Approach angenommen, wo sie Dinge ausprobiert haben und dann so wie sie waren eingebaut haben. Zur musikalischen Reifephase gehören im weiteren Sinne auch das Weiße Album und Abbey Road, obwohl die beiden Alben eigentlich schon den Beginn des Endes markieren.
Diese Zerfallsphase beginnt widersprüchlicherweise eigentlich schon 1967 mit dem Tod von Brian Epstein - der sich ohne das Touren überflüssig gefühlt hat - und ohne den die Beatles ziemlich verloren sind. Sein Tod markiert eigentlich ziemlich genau das Ende des Summer of Loves. Obwohl die Beatles immer noch Meisterwerke produzieren, merkt man immer mehr, dass ihnen eigentlich der Manager fehlt, der sich selbst aber mit dem Ende der Tourneen als überflüssig empfunden hat.
Sie machen dann alle möglichen relativ richtunglose hippiesken Selbstfindungssachen, wie den Trip nach Indien, oder die Gründung von Apple, das ja eigentlich die Idee eines Indielabels ist, das kreatives ermöglichen soll, also gut gemeint, aber das natürlich ein Projekt ist, das, weil halt im Kapitalismus gefangen, völlig an den Widersprüchen des Kapitalismus zerbricht. Weil irgendwann brauchten sie dann wieder Geld, und das hat dann Streitigkeiten über die Ausrichtung - und welchen Manager sie brauchen - mit sich gebracht.
1968
1968 war politisch eine enorme Zensur. 1968 kulminieren die verschiedenen Bewegungen beinahe gleichzeitig: der Prager Frühling wo die Frage nach “echtem” demokratischen Sozialismus gestellt wird, der Generalstreik in Frankreich im Mai 68, wo die Arbeiter/innenklasse die Bühne betritt und es beinahe eine sozialistische Revolution in Europa gibt, die Tet Offensive in Vietnam und den Widerstand dagegen, Studierendenunruhen, die Ermordung von Martin Luther King und den Aufschrei dagegen, die Kulturrevolution in China mit dem Maoismus (wo ja ein Teil der Bürokratie eine Bewegung gegen den anderen Teil der Bürokratie schürt - begann aber schon 66), die Entwicklung der Black Panther (auch die bereits 66 gegründet)etc.
Politisch spiegelt sich das dann insofern wider, als die Beatles 1969 einen Versuch in Richtung “Back to the roots” in Form des Get Back Projects starten, ein Zurück zum Rock’n’roll und Blues, weg von der klassischen Musik. Aber auch inhaltlich kommt das langsam auch in den Texten zu tragen - Back in the USSR (satirische Auseinandersetzung mit dem kalten Krieg), Lady Madonna (Alleinerzieherin im Fokus), Blackbird (da gehts um die Bürgerrechtsbewegung) und natürlich Revolution, wo sich Lennon eigentlich von den Maoisten und jenen Teilen der Linken distanziert die auf individuellen Terror setzen. Aber eigentlich hat er sich nicht von der Idee von Revolution an sich distanziert, wie später in den frühen 70ern deutlich wird, wo er mit der Yoko Ono viel Politzeugs macht und mit der vierten Internationale in Kontakt ist, und wo er Imagine schreibt, das er als "Virtually the communist manifesto put to music" beschreibt.
1968 kommt auch der Film Yellow Submarine heraus, den die Beatles zwar nicht mit konzipieren, aber der sehr stark unter dem Nachhall des Prager Frühlings steht. Die Blue Meanies sollten eigentlich Red Meanies sein, laut Heinz Edelmann, der für den Film als Art Director fungiert. Man sieht im Film, wie allein das Hören von Musik mit dem Regime der Blue Meanies (also im übertragenen Sinne der stalinistische Bürokratie) schon in Konflikt kommt und zum revolutionären Akt wird. Der Film impliziert, dass politische Revolution gegen die Bürokratie hin zu echtem Sozialismus möglich gewesen wäre, und das wurde gesellschaftlich ja auch in vielen Ländern diskutiert.
Schmerzlicher Zerfallsprozess
In Get Back sieht man den schmerzlichen Zerfallsprozess der Beatles. Letztlich waren das mehrere Faktoren:
Lennon und Mccartney heiraten beide. Und zwar, zumindest im Fall von Yoko Ono, Frauen, die sich nicht mit der Rolle des Heimchen am Herd abfinden, wie noch Lennons erste Frau Cynthia. Das ist letztlich Ausdruck des gestärkten Selbstbewusstseins von Frauen im Laufe des Jahrzehnts. Es gibt kein Zurück zu 1963. Während John und Cynthia Lennon Familie gespielt haben, wenig gemeinsames hatten und dadurch genug Raum für die Band blieb, ist die Beziehung zu Yoko Ono ganz anders, intimer, auf einer künstlerischen und politischen gemeinsamen Basis stehend. Und das war mit der Einheit Lennon-McCartney - und damit der Band - nicht mehr vereinbar.
Auch der Versuch in Get Back zurück zum Live-Format zu kommen gelingt nur bedingt - beim Weißen Album haben sie begonnen, alleine Songs einzuspielen, alle instrumente selbst einzuspielen, vor allem Paul McCartney, und er hat vermutlich Blut geleckt daran, die totale künstlerische Kontrolle über seine Songs zu haben. Bei Get Back ist es viel schwieriger Instrumente zu tauschen - wenn McCartney Klavier spielt, muss irgendwer Bass spielen. Es ist natürlich viel leichter den Gitarrenpart selbst so einzuspielen, wie man das gerne möchte, als mit jemand anderen zusammenzuarbeiten.
Auch der Sprengstoff der drei Songwriter kommt hier zu tragen, erst massive Bereicherung durch die starken Persönlichkeiten, sorgt das nun zu Spannungen und vor allem George Harrison möchte nun mehr Raum für die eigenen Sachen. Das bedeutet, es hat eine gewisse Subjektwerdung, aber gleichzeitig Vereinzelung stattgefunden, was schließlich zur Trennung führte.
Die Karriere der Beatles von 1960-1970 spiegelt den Bogen des Jahrzehnts und auch des Nachkriegsaufschwungs ziemlich genau wider. Denn der hat zwar offiziell erst mit der Ölkrise 1973 geendet, aber die Profite haben bereits Ende der 60er Jahre begonnen zu sinken.
Yesterday - und heute?
Die Themen, die sich in der Musik der Beatles gespiegelt haben, sind heute, in einer Situation multipler Krisen des Kapitalismus, mehr als aktuell.
Was zwischen damals und heute steht, sind 1989 und der Zusammenbruch des Stalinismus und die Offensive des Kapitalismus in den 90ern, wo uns gesagt wurde, dass nur der Kapitalismus funktioniert und die 68er Träumer waren die gescheitert sind (das Buch von Ian McDonald "Revolution in the Head" zb spiegelt das wieder, das Buch ist 1997 geschrieben worden und McDonald sinniert die ganze Zeit, warum die Counter Culture in den 60ern nicht erfolgreich war und versucht den Grund darin zu finden, dass diese an sich vermessen war - was nicht stimmt, es gab konkrete Gründe warum sich der Neoliberalismus und die kapitalistische Offensive durchgesetzt haben). Die Sozialdemokratien sind nach rechts gerutscht und haben die Arbeiter/innenklasse im Grunde ohne Vertretung zurück gelassen. Die Nachwirkungen von 1989 fühlen wir heute immer noch, aber das beginnt sich auch langsam zu ändern. Grund genug, die Beatles und ihre Zeit wieder zu entdecken.
Die Musikindustrie ist heute in völligem Abstieg begriffen - das ist im Grunde Ausdruck der Krise, in der die gesamte Gesellschaft sich befindet. Sgt. Peppers wäre so in dieser Form gar nicht mehr möglich - die Musikindustrie braucht einen einkastelbaren Act, damit sie diesen zielgruppengerecht vermarkten kann. Da kannst du nicht ein Lied so und ein anderes Lied so gestalten wie die Beatles das auf Sgt. Peppers gemacht haben. Heute gibt kaum jemand mehr Geld aus für Musikaufnahmen, außer der Generation, die mit den Beatles aufgewachsen ist. Es gibt Widerspruch zwischen Demokratisierung der Musikproduktion - kann eigentlich jeder aufnehmen - und sinkender Profitabilität. CDs verkaufen sich aufgrund Streaming nicht mehr, dann gab es einen Shift zum Live Markt, aber der ist seit der Pandemie auch hin (Locations sind Pleite gegangen, dh es gibt heute weniger Auftrittsmöglichkeiten). Es gibt zwar ein bissl ein Vinylrevival aber das ist ein Elitenprojekt.
Das führt dazu dass die Musikindustrie nur noch recyclet und kaum noch Möglichkeiten zu profitabler Verwertung hat. Darum auch versucht sie auch alles kommerziell auszuschlachten. Aber dem Mainstream stehen Selbstorganisation und Subkulturen gegenüber - wenn damit auch kein Geld zu machen ist. Aber der Mensch hört nicht auf Musik zu machen. Kreativität “on the ground” gibt es nach wie vor. Aber es ist mehr denn je Zeit die Musik vom Warencharakter und von der Entfremdung von ihr selbst zu befreien - durch einen Bruch mit dem Kapitalismus. Dazu braucht es die Entwicklung von neuen Arbeiter/innenparteien und revolutionärer Massenparteien.
Die Welt heute ist in Aufruhr aufgrund der multiplen Krisen des Kapitalismus. Es gibt Streikwellen in Britannien, Deutschland, Frankreich, Massenbewegungen in Israel und Sri Lanka. Es gibt neue Generationen, die nicht nur zum Teil die Beatles entdecken (z.B. eine internationale Community of Tiktok, das sind Teenies und 20jährige), sondern auch nach Ideen suchen, weil sich der Kapitalismus so in der Sackgasse befindet. Bei Livestreams auf Tiktok zu den Demonstrationen gegen Macrons Pensionsreform haben Jugendliche "revolution" und "mai 68" kommentiert. Es ist mehr als legitim, auf der Suche nach Antworten einen Blick zurück in die 60er werfen. Und Imagine so hören, wie es von John Lennon gemeint war: Als Vision einer klassenlosen Gesellschaft.
Tipps:
-> “Inspire Beatles” Playlist auf Spotify (Eine Playlist mit den verschiedenen Einflüssen von denen die Beatles "zitiert" haben)
Quellen:
Mark Lewison: The Beatles - Tune In
Peter Taaffe: Liverpool - A City that dared to fight
Ernst Hofacker: Von Edison bis Elvis. Wie die Popmusik erfunden wurde.
Barry Miles: Paul Mccartney - Many years from now
Edgar Cruz: Extraordinary Plagiarists
Ian McDonald: Revolution in the Head
14.06.2018
Sind wir nicht alle ein bisschen Christl?
Rezension: Martin Amanshauser, Chicken Christl (2004)
Wir alle haben zehn Finger. Alle? Nein - Mika Koegl und sein US-Präsidentengroßvater Major Koegl haben zwölf.
Seine Freundin, die mit ihm Schluss gemacht hat, und deren Phantomschmerz Mika im Verlaufe der Geschichte betrauert, heisst passenderweise Xenia, die Fremde, die ihn ständig dazu bringen will sich die beiden überzähligen Finger wegoperieren zu lassen. Damit er nicht aneckt? Oder um ihn vor der seltsamen faschistoiden Sekte zu schützen, die ihn als Präsidentenklon kidnappt und verehren will? Und sie sagt: Er soll sich endlich seiner Vergangenheit stellen.
Seine Vergangenheit, das sind der zwölffingrige Präsident und seine Frau Christl, deren Geschichte im Burgenland mit einer Hendlfarm beginnt. Christl, die Oma, heisst vulgo Chicken Christl, hat nach Apfelblüten duftende Handgelenke und einen Spalt im Kopf, der von einem herabfallenden Ziegelstein herrührt und sie ein bissl chicken, dh gaga, aber lieb, macht.
Wer Christl den Ziegelstein auf den Kopf geworfen hat? Die Sekte weiß es. Die Sekte, das sind die Jünger vom Präsidentenadlatus Teddy Novgor, im folgenden Novgoristen genannt.
Das Buch stammt aus dem Jahre 2004 - die Novgoristen können also nicht Trump und Breitbart meinen, erinnern aber daran. Sich der Vergangenheit stellen, das meint also nicht nur die zwölf Finger, also das anders sein, sondern auch die politische Vergangenheit der Großväter, und auch der Großmütter, die das gewesene nicht gern erinnern, oder nicht erinnern können, aufgrund bestimmter Ziegelsteine.
Chicken Christl wird dadurch zur Parabel - nicht nur auf das Anderssein, sondern auch auf eine Generation deren Großeltern sich nicht mehr an die Verbrechen ihrer Generation erinnern können oder wollen, auch wenn keine Ziegelsteine auf sie fallen. Und die Schuld lässt sich auch nicht wegoperieren. Sie bleibt.
Chicken Christl ist Martin Amanshausers poetischster und mutigster Roman, die Sprache elegant und reduziert, absurd, surreal und herzbrechend. Jeder Satz sitzt, der Text ist fast lyrisch, wie ein Songtext, von tiefer Traurigkeit durchzogen. Man spürt den Rhythmus der Musik der im Text wohnt. Die Sexszenen sind ungewöhnlich, verschoben, manchmal kalt und elegant, manchmal fast unschuldig und zärtlich. Amanshausers Sinn für das seltsame und absurde zeigt sich u.a. in den Briefen, die die Nachbarin, Sektenmitglied und zeitweise als Mikas Love Interest fungierende Susan Andretti für ihre Kolumne erhält. Auch die Metaebenen sind verschoben und verwoben. Am Ende verliebt man sich in Christl und ihre nach Apfelblüten duftenden Handgelenke. Wir alle haben zehn Finger - alle? Nach der Lektüre dieses Buches haben wir aus Solidarität zwölf.
11.09.2017
The Lobster: Dystopie im Jetzt
Eine Gesellschaft in der man stigmatisiert ist, wenn man ledig bleibt und in der alle glücklich sein müssen. Selbstbefriedigung ist verboten, Sex vor der Ehe auch. Ein dystopisches Szenario? Klingt ein wenig nach 50er Jahre oder katholische Kirche am Land. Tatsächlich schrammt The Lobster beängstigend knapp an der Realität des Lebens im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts vorbei - auch wenn die gezeichnete Gesellschaft stark Züge eines faschistischen Regimes trägt. Die Partnersuche ist ein Muss und läuft nach seltsamen Kriterien ab: Man muss zumindest eine Gemeinsamkeit finden, dann erst darf man sich verpartnern - die Logarithmen von Parship lassen grüßen. Wer die 45-Tage-Frist nicht einhält, wird in ein Tier seiner Wahl verwandelt. Aber so surrealistisch und absurd wie dieser Twist daherkommt, ist das gar nicht - es ist nur überspitzt. Man könnte auch sagen: Wer bis zu einem gewissen Alter keinen Partner hat, darf mit einem Stigma belegt werden - im 19. Jahrhundert galten Frauen schon mit 30 als alte Jungfern. Um der Verwandlung zu entgehen, werden die Menschen immer verzweifelter und nehmen auch in Kauf, dass der gewählte Partner null Gefühle in einem weckt. Das ganze erinnert ein wenig an die Verzweiflung von Jugendlichen bei der Partnerwahl im Tanzkurs, damit man nicht als einziger allein übrig bleibt. Bei den Tanzveranstaltungen des Hotels (also des Regimes) werden die Vorzüge der Verpartnerung gepriesen. In Hetzjagden werden die "Loner" gejagt - jene Menschen, die vor dem Terrorregime der Verpartnerung in die Wälder geflohen sind. Die erlegten Loner werden wie Beute präsentiert und dann nicht bekannten Operationen unterzogen. Hauptfigur David wählt ausgerechnet jene Figur, die bei den Hetzjagden die meisten Loner gefangen hat - eine Frau ohne jede Gefühlsregung. Damit sie eine Gemeinsamkeit finden, gibt auch er vor, ohne Gefühle zu sein. Erst als sie seinen in einen Hund verwandelten Bruder tötet, beschließt er, in die Wälder zu fliehen und sich den Lonern anzuschließen. Liebe? Echte Gefühle? In dieser Gesellschaft fehl am Platz. Viel, viel zu gefährlich.
Aber auch in der Gegenwelt der Rebellen am Land sucht man vergeblich nach Liebe. Dort ist sie sogar explizit verboten. Erlaubt ist nur unverbindlicher Sex. Die Rebellen sind so beschäftigt damit, das Ideal der Verpartnerung abzulehnen, dass sie gleich die Liebe mit über Bord werfen. Erinnert stark an das "wer einmal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment" der 60er/70er Generation, die gegen die strikten Moralvorstellungen der 50er Jahre rebellierte (Oder ins Jetzt gebracht: Tinder vs Parship). In beiden Lebensmodellen, die The Lobster hier präsentiert ist eines verboten: die Liebe. David und die namenlose Rebellin, in die er sich verliebt, verstoßen gegen den Codex beider Modelle - sie haben keinen Platz in dieser Gesellschaft. Die Liebe wird dadurch zum ultimativ rebellischen Akt - denn sie stößt an deren Grenzen. Verbotene Liebe? Kennen wir das nicht woher? David und seine Geliebte träumen schließlich davon, aus den Wäldern in die Stadt zu fliehen, für eine Verpartnerung müssen sie allerdings eine Gemeinsamkeit finden. Die Geliebte ist kurzsichtig, also unterzieht sie sich einer Augenoperation, in der sie von der Rebellenführerin jedoch geblendet wird. Der Film endet mit David, der sich selbst blendet, um mit ihr gleichzuziehen.
The Lobster ist streckenweise höchst beklemmend, was nicht nur an der surrealistischen Story und an der dissonanten Musikuntermalung liegt, sondern auch daran, dass The Lobster filmisch gesehen so alltäglich und normal daherkommt. Das ganze könnte ein Albtraum sein. Es könnte aber auch unser Leben sein. Nein, wir leben nicht im Faschismus. Nein, wir können uns auch für die Liebe entscheiden. Aber in unseren Köpfen sind die beiden Gegenmodelle "Beziehung/Familiengründung (wenn nicht anders möglich auch ohne Liebe)" und "Singledasein (wobei man sich möglichst vielen unverbindlichen Sexualkontakten hingibt, weil Liebe führt ja zu Modell 1)" fest verankert. Egal welches Modell - sie sind ideologische Vorgaben der Klassengesellschaft. Die Liebe an sich, die echten Gefühle, denen man folgen darf - hat sie wirklich einen Platz in unserer Gesellschaft, im hier und jetzt? Oder ist sie nicht doch zu gefährlich, weil sie auch andere Gefühle wecken und zum Hinterfragen des Status Quo führen könnte?
9.10.17: Winona Ryder - Best of
In den 90ern hat kaum jemand die Anti-Helding so gut verkörpert wie Winona Ryder.
Die weiblichen Nerd-Teenies fühlten sich von ihr, die immer wieder Outsider-Rollen gespielt hat, verstanden.
Sie war schrullig, durchgeknallt und - etwas seltsam. Auf sympathische Art. So ein bisschen eine Annie Hall der 90er. Gleichzeitig datete sie mit Johnny Depp und diversen Rockmusikern die coolsten Typen der Ära.
Als sie Anfang der 2000er beim Shopliften erwischt wurde, galt sie von knall auf Fall als Untouchable. Schon davor gab es Berichte über Nervenzusammenbrüche und Depressionen - Makel, die sie aber mit Girl, Interrupted auch künstlerisch umsetzen konnte. Trotz einer öffentlichen Entschuldigung blieben die Rollen in Folge jedoch aus. Anti-Heldin ist sie dennoch geblieben - sympathisch unperfekt und menschlich. Eben nicht wie ein Star, sondern jemand wie du und ich.
In der Netflix Ära ist sie wie viele andere 80er/90er Stars und Starlets nun auf Comeback-Kurs (für Stranger Things wurde sie sogar für den Golden Globe nominiert).
Anlass genug sich ihre Top-Filme aus den 80ern/90ern nochmal anzusehen.
Reality Bites
1994 war das Jahr in dem Noni die Queen of Cool war. Reality Bites war Zeitgeist, MTV, Generation X und so. Jeder wollte wie Noni in diesem Film sein und zu My Sharona tanzen. Und mit Ethan Hawke im Bett landen.
Welcome Home, Roxy Carmichael
Das hier ist ein weniger bekannter Film - aber classic Noni. Sie stapft in überweitem schwarzen Sweater und Gummistiefeln auf ihrer Arche Noah herum und lässt sich von Mitschülern mit Essen bewerfen. Jeder der in der Schule mal gemobbt wurde, hatte plötzlich eine Heldin, die dennoch am Schluss rosa Prinzessinnenkleid tragen durfte.
Girl, Interrupted
Als wäre der Film ein Vorbote auf die danach folgenden Real Life Events gibt dieser End of a Century Film Einblick in Nonis Psyche - sie spielte nicht Girl, Interrupted, sie war es. Und gegen die coole, nicht angreifbare Angelina blieb sie auch hier: echt und angreifbar.
Mermaids
Auch das, eine ihrer Paraderollen als verquerer Teenie. Die Rolle als schrullige Tochter von Cher lässt sie in Gummistiefeln Rosenkranz beten und erste sexuelle Erfahrungen mit dem süßen Busfahrer machen. Die Botschaft an den Rest von uns: Es gibt Hoffnung.
Heathers
Heathers - unbestritten einer der kultigsten in Nonis Biographie - ist eine bitterböse schwarze Komöde übers Highschoolleben. Die drei Heathers sind hübsch und wohlhabend - Cheerleader-Typen eben. Und Noni nimmt es als Außenseiterin gemeinsam mit Christian Slater mit ihnen auf. Ein Film übers Cool und Uncool sein - und dass Uncool das neue Cool ist.
Revie aus 2007:
Review Maximo Park: Our Earthly Pleasures
http://www.kulturwoche.at/index.php?option=com_content&task=view&id=1137
Maximo Park Frontman Paul Smith ist ein seltsamer Kerl: Er sieht aus wie einer, der in der Schule geschnitten wurde, kultiviert seinen nordenglischen Geordie-Akzent und liest auf der Bühne aus Büchern vor. Gerade das und Smiths Vorliebe für raffinierte Texte heben Maximo Park allerdings von ihren Contemporaries ab. "We will meet in Russian Literature" singt Smith im gleichnamigen Song, dem der Titel des Zweitlingswerks, Our Earthly Pleasures, entnommen ist. Das ist auch der rote Faden, der sich durch das Album zieht - jeder einzelne Song hat seine eigene Dramatik. Besungen wird der Pariser Himmel ("Parisian Sky"), Denkmäler ("By the Monument"), und in dem großartigen "Books from Boxes" steht das Auspacken von Büchern symbolisch für das Ende einer Liebe. Genau das scheint Smith auch hier auf sehr kunstvolle Art und Weise verarbeitet zu haben. Immer wieder tauchen Metaphern auf, die aber nie platt oder künstlich klingen, wie z.B. "The North Sea crashes through your dreams" im Lied "Karaoke Plays", oder "We rarely see warning signs in the air we breathe" in "Books from Boxes". Nach eigener Aussage der Band stoßen sie sogar in politische Gefilde vor: Laut Paul Smith ist "Our Velocity" ein kritischer Song über den Gemütszustand einer Kriegsführenden Nation. Die Anfangszeile "I'm not a man, I'm a machine" und das Gefühl der Beklemmung, das "Our Velocity" hinterlässt, macht in diesem Zusammenhang höchst Sinn.Musikalisch und inhaltlich hat Maximo Park mit "Our Earthly Pleasures" das für mich beste Indie-Rock Album des Jahres vorgelegt. Wie nicht anders zu erwarten sind die Gitarren knackig, die Arrangements dicht und der Gesang präzise. Gegenüber dem Debüt A Certain Trigger wirkt der Sound insgesamt runder, was nicht zuletzt auch auf das Konto von Pixies Produzent Gil Norton geht. Die wahren Stars des Albums sind aber die komplexen und intelligent gestrickten Songs. "The Park" überrascht mit immer neuen musikalischen Einfällen und gerade die melodielastigeren Stücke glänzen besonders. Egal ob sie rocken ("Girls Who Play Guitar") oder Smiths Herzbluten melodisch untermalen ("Nosebleed", "Karaoke Plays"): die Melodien sind Ohrwürmer mit Suchtfaktor, die man nicht mehr los bekommt. Den einzigen Schwachpunkt des Albums, die etwas zu ambitionierte Tempo-Nummer, "The Unshockable", verzeiht man ihnen daher gerne. Art-School Rock vom Feinsten. (Laura Rafetseder)
Sind wir nicht alle ein bisschen Christl?
Rezension: Martin Amanshauser, Chicken Christl (2004)
Wir alle haben zehn Finger. Alle? Nein - Mika Koegl und sein US-Präsidentengroßvater Major Koegl haben zwölf.
Seine Freundin, die mit ihm Schluss gemacht hat, und deren Phantomschmerz Mika im Verlaufe der Geschichte betrauert, heisst passenderweise Xenia, die Fremde, die ihn ständig dazu bringen will sich die beiden überzähligen Finger wegoperieren zu lassen. Damit er nicht aneckt? Oder um ihn vor der seltsamen faschistoiden Sekte zu schützen, die ihn als Präsidentenklon kidnappt und verehren will? Und sie sagt: Er soll sich endlich seiner Vergangenheit stellen.
Seine Vergangenheit, das sind der zwölffingrige Präsident und seine Frau Christl, deren Geschichte im Burgenland mit einer Hendlfarm beginnt. Christl, die Oma, heisst vulgo Chicken Christl, hat nach Apfelblüten duftende Handgelenke und einen Spalt im Kopf, der von einem herabfallenden Ziegelstein herrührt und sie ein bissl chicken, dh gaga, aber lieb, macht.
Wer Christl den Ziegelstein auf den Kopf geworfen hat? Die Sekte weiß es. Die Sekte, das sind die Jünger vom Präsidentenadlatus Teddy Novgor, im folgenden Novgoristen genannt.
Das Buch stammt aus dem Jahre 2004 - die Novgoristen können also nicht Trump und Breitbart meinen, erinnern aber daran. Sich der Vergangenheit stellen, das meint also nicht nur die zwölf Finger, also das anders sein, sondern auch die politische Vergangenheit der Großväter, und auch der Großmütter, die das gewesene nicht gern erinnern, oder nicht erinnern können, aufgrund bestimmter Ziegelsteine.
Chicken Christl wird dadurch zur Parabel - nicht nur auf das Anderssein, sondern auch auf eine Generation deren Großeltern sich nicht mehr an die Verbrechen ihrer Generation erinnern können oder wollen, auch wenn keine Ziegelsteine auf sie fallen. Und die Schuld lässt sich auch nicht wegoperieren. Sie bleibt.
Chicken Christl ist Martin Amanshausers poetischster und mutigster Roman, die Sprache elegant und reduziert, absurd, surreal und herzbrechend. Jeder Satz sitzt, der Text ist fast lyrisch, wie ein Songtext, von tiefer Traurigkeit durchzogen. Man spürt den Rhythmus der Musik der im Text wohnt. Die Sexszenen sind ungewöhnlich, verschoben, manchmal kalt und elegant, manchmal fast unschuldig und zärtlich. Amanshausers Sinn für das seltsame und absurde zeigt sich u.a. in den Briefen, die die Nachbarin, Sektenmitglied und zeitweise als Mikas Love Interest fungierende Susan Andretti für ihre Kolumne erhält. Auch die Metaebenen sind verschoben und verwoben. Am Ende verliebt man sich in Christl und ihre nach Apfelblüten duftenden Handgelenke. Wir alle haben zehn Finger - alle? Nach der Lektüre dieses Buches haben wir aus Solidarität zwölf.
11.09.2017
The Lobster: Dystopie im Jetzt
Eine Gesellschaft in der man stigmatisiert ist, wenn man ledig bleibt und in der alle glücklich sein müssen. Selbstbefriedigung ist verboten, Sex vor der Ehe auch. Ein dystopisches Szenario? Klingt ein wenig nach 50er Jahre oder katholische Kirche am Land. Tatsächlich schrammt The Lobster beängstigend knapp an der Realität des Lebens im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts vorbei - auch wenn die gezeichnete Gesellschaft stark Züge eines faschistischen Regimes trägt. Die Partnersuche ist ein Muss und läuft nach seltsamen Kriterien ab: Man muss zumindest eine Gemeinsamkeit finden, dann erst darf man sich verpartnern - die Logarithmen von Parship lassen grüßen. Wer die 45-Tage-Frist nicht einhält, wird in ein Tier seiner Wahl verwandelt. Aber so surrealistisch und absurd wie dieser Twist daherkommt, ist das gar nicht - es ist nur überspitzt. Man könnte auch sagen: Wer bis zu einem gewissen Alter keinen Partner hat, darf mit einem Stigma belegt werden - im 19. Jahrhundert galten Frauen schon mit 30 als alte Jungfern. Um der Verwandlung zu entgehen, werden die Menschen immer verzweifelter und nehmen auch in Kauf, dass der gewählte Partner null Gefühle in einem weckt. Das ganze erinnert ein wenig an die Verzweiflung von Jugendlichen bei der Partnerwahl im Tanzkurs, damit man nicht als einziger allein übrig bleibt. Bei den Tanzveranstaltungen des Hotels (also des Regimes) werden die Vorzüge der Verpartnerung gepriesen. In Hetzjagden werden die "Loner" gejagt - jene Menschen, die vor dem Terrorregime der Verpartnerung in die Wälder geflohen sind. Die erlegten Loner werden wie Beute präsentiert und dann nicht bekannten Operationen unterzogen. Hauptfigur David wählt ausgerechnet jene Figur, die bei den Hetzjagden die meisten Loner gefangen hat - eine Frau ohne jede Gefühlsregung. Damit sie eine Gemeinsamkeit finden, gibt auch er vor, ohne Gefühle zu sein. Erst als sie seinen in einen Hund verwandelten Bruder tötet, beschließt er, in die Wälder zu fliehen und sich den Lonern anzuschließen. Liebe? Echte Gefühle? In dieser Gesellschaft fehl am Platz. Viel, viel zu gefährlich.
Aber auch in der Gegenwelt der Rebellen am Land sucht man vergeblich nach Liebe. Dort ist sie sogar explizit verboten. Erlaubt ist nur unverbindlicher Sex. Die Rebellen sind so beschäftigt damit, das Ideal der Verpartnerung abzulehnen, dass sie gleich die Liebe mit über Bord werfen. Erinnert stark an das "wer einmal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment" der 60er/70er Generation, die gegen die strikten Moralvorstellungen der 50er Jahre rebellierte (Oder ins Jetzt gebracht: Tinder vs Parship). In beiden Lebensmodellen, die The Lobster hier präsentiert ist eines verboten: die Liebe. David und die namenlose Rebellin, in die er sich verliebt, verstoßen gegen den Codex beider Modelle - sie haben keinen Platz in dieser Gesellschaft. Die Liebe wird dadurch zum ultimativ rebellischen Akt - denn sie stößt an deren Grenzen. Verbotene Liebe? Kennen wir das nicht woher? David und seine Geliebte träumen schließlich davon, aus den Wäldern in die Stadt zu fliehen, für eine Verpartnerung müssen sie allerdings eine Gemeinsamkeit finden. Die Geliebte ist kurzsichtig, also unterzieht sie sich einer Augenoperation, in der sie von der Rebellenführerin jedoch geblendet wird. Der Film endet mit David, der sich selbst blendet, um mit ihr gleichzuziehen.
The Lobster ist streckenweise höchst beklemmend, was nicht nur an der surrealistischen Story und an der dissonanten Musikuntermalung liegt, sondern auch daran, dass The Lobster filmisch gesehen so alltäglich und normal daherkommt. Das ganze könnte ein Albtraum sein. Es könnte aber auch unser Leben sein. Nein, wir leben nicht im Faschismus. Nein, wir können uns auch für die Liebe entscheiden. Aber in unseren Köpfen sind die beiden Gegenmodelle "Beziehung/Familiengründung (wenn nicht anders möglich auch ohne Liebe)" und "Singledasein (wobei man sich möglichst vielen unverbindlichen Sexualkontakten hingibt, weil Liebe führt ja zu Modell 1)" fest verankert. Egal welches Modell - sie sind ideologische Vorgaben der Klassengesellschaft. Die Liebe an sich, die echten Gefühle, denen man folgen darf - hat sie wirklich einen Platz in unserer Gesellschaft, im hier und jetzt? Oder ist sie nicht doch zu gefährlich, weil sie auch andere Gefühle wecken und zum Hinterfragen des Status Quo führen könnte?
9.10.17: Winona Ryder - Best of
In den 90ern hat kaum jemand die Anti-Helding so gut verkörpert wie Winona Ryder.
Die weiblichen Nerd-Teenies fühlten sich von ihr, die immer wieder Outsider-Rollen gespielt hat, verstanden.
Sie war schrullig, durchgeknallt und - etwas seltsam. Auf sympathische Art. So ein bisschen eine Annie Hall der 90er. Gleichzeitig datete sie mit Johnny Depp und diversen Rockmusikern die coolsten Typen der Ära.
Als sie Anfang der 2000er beim Shopliften erwischt wurde, galt sie von knall auf Fall als Untouchable. Schon davor gab es Berichte über Nervenzusammenbrüche und Depressionen - Makel, die sie aber mit Girl, Interrupted auch künstlerisch umsetzen konnte. Trotz einer öffentlichen Entschuldigung blieben die Rollen in Folge jedoch aus. Anti-Heldin ist sie dennoch geblieben - sympathisch unperfekt und menschlich. Eben nicht wie ein Star, sondern jemand wie du und ich.
In der Netflix Ära ist sie wie viele andere 80er/90er Stars und Starlets nun auf Comeback-Kurs (für Stranger Things wurde sie sogar für den Golden Globe nominiert).
Anlass genug sich ihre Top-Filme aus den 80ern/90ern nochmal anzusehen.
Reality Bites
1994 war das Jahr in dem Noni die Queen of Cool war. Reality Bites war Zeitgeist, MTV, Generation X und so. Jeder wollte wie Noni in diesem Film sein und zu My Sharona tanzen. Und mit Ethan Hawke im Bett landen.
Welcome Home, Roxy Carmichael
Das hier ist ein weniger bekannter Film - aber classic Noni. Sie stapft in überweitem schwarzen Sweater und Gummistiefeln auf ihrer Arche Noah herum und lässt sich von Mitschülern mit Essen bewerfen. Jeder der in der Schule mal gemobbt wurde, hatte plötzlich eine Heldin, die dennoch am Schluss rosa Prinzessinnenkleid tragen durfte.
Girl, Interrupted
Als wäre der Film ein Vorbote auf die danach folgenden Real Life Events gibt dieser End of a Century Film Einblick in Nonis Psyche - sie spielte nicht Girl, Interrupted, sie war es. Und gegen die coole, nicht angreifbare Angelina blieb sie auch hier: echt und angreifbar.
Mermaids
Auch das, eine ihrer Paraderollen als verquerer Teenie. Die Rolle als schrullige Tochter von Cher lässt sie in Gummistiefeln Rosenkranz beten und erste sexuelle Erfahrungen mit dem süßen Busfahrer machen. Die Botschaft an den Rest von uns: Es gibt Hoffnung.
Heathers
Heathers - unbestritten einer der kultigsten in Nonis Biographie - ist eine bitterböse schwarze Komöde übers Highschoolleben. Die drei Heathers sind hübsch und wohlhabend - Cheerleader-Typen eben. Und Noni nimmt es als Außenseiterin gemeinsam mit Christian Slater mit ihnen auf. Ein Film übers Cool und Uncool sein - und dass Uncool das neue Cool ist.
- 1994: Reality Bites – Voll das Leben (Reality Bites)
- 1990: Ein Mädchen namens Dinky (Welcome Home, Roxy Carmichael)
- 1999: Durchgeknallt (Girl, Interrupted)
- 1990: Meerjungfrauen küssen besser (Mermaids)
- 1989: Heathers
- 1989: Great Balls of Fire – Jerry Lee Lewis – Ein Leben für den Rock’n’Roll (Great Balls of Fire!)
- 1994: Betty und ihre Schwestern (Little Women)
- 1990: Edward mit den Scherenhänden (Edward Scissorhands)
- 1988: Beetlejuice
- 1995: Ein amerikanischer Quilt (How to Make an American Quilt)
Revie aus 2007:
Review Maximo Park: Our Earthly Pleasures
http://www.kulturwoche.at/index.php?option=com_content&task=view&id=1137
Maximo Park Frontman Paul Smith ist ein seltsamer Kerl: Er sieht aus wie einer, der in der Schule geschnitten wurde, kultiviert seinen nordenglischen Geordie-Akzent und liest auf der Bühne aus Büchern vor. Gerade das und Smiths Vorliebe für raffinierte Texte heben Maximo Park allerdings von ihren Contemporaries ab. "We will meet in Russian Literature" singt Smith im gleichnamigen Song, dem der Titel des Zweitlingswerks, Our Earthly Pleasures, entnommen ist. Das ist auch der rote Faden, der sich durch das Album zieht - jeder einzelne Song hat seine eigene Dramatik. Besungen wird der Pariser Himmel ("Parisian Sky"), Denkmäler ("By the Monument"), und in dem großartigen "Books from Boxes" steht das Auspacken von Büchern symbolisch für das Ende einer Liebe. Genau das scheint Smith auch hier auf sehr kunstvolle Art und Weise verarbeitet zu haben. Immer wieder tauchen Metaphern auf, die aber nie platt oder künstlich klingen, wie z.B. "The North Sea crashes through your dreams" im Lied "Karaoke Plays", oder "We rarely see warning signs in the air we breathe" in "Books from Boxes". Nach eigener Aussage der Band stoßen sie sogar in politische Gefilde vor: Laut Paul Smith ist "Our Velocity" ein kritischer Song über den Gemütszustand einer Kriegsführenden Nation. Die Anfangszeile "I'm not a man, I'm a machine" und das Gefühl der Beklemmung, das "Our Velocity" hinterlässt, macht in diesem Zusammenhang höchst Sinn.Musikalisch und inhaltlich hat Maximo Park mit "Our Earthly Pleasures" das für mich beste Indie-Rock Album des Jahres vorgelegt. Wie nicht anders zu erwarten sind die Gitarren knackig, die Arrangements dicht und der Gesang präzise. Gegenüber dem Debüt A Certain Trigger wirkt der Sound insgesamt runder, was nicht zuletzt auch auf das Konto von Pixies Produzent Gil Norton geht. Die wahren Stars des Albums sind aber die komplexen und intelligent gestrickten Songs. "The Park" überrascht mit immer neuen musikalischen Einfällen und gerade die melodielastigeren Stücke glänzen besonders. Egal ob sie rocken ("Girls Who Play Guitar") oder Smiths Herzbluten melodisch untermalen ("Nosebleed", "Karaoke Plays"): die Melodien sind Ohrwürmer mit Suchtfaktor, die man nicht mehr los bekommt. Den einzigen Schwachpunkt des Albums, die etwas zu ambitionierte Tempo-Nummer, "The Unshockable", verzeiht man ihnen daher gerne. Art-School Rock vom Feinsten. (Laura Rafetseder)